Verstehen wir den Fachkräftemangel denn überhaupt richtig? Eine zugegeben provokante Frage. Insbesondere dann, wenn man in einem Panel mit Personalchefs von deutschen Großunternehmen wie SAP oder der Deutschen Bahn zusammensitzt.
Auf der NWX23 war genau diese Frage das große Thema – und zwar um abzuleiten, welche Lösungen für den Fachkräftemangel tatsächlich gangbar und erfolgsversprechend sind. Zumal dieser in den kommenden Jahren noch deutlich zunehmen wird, bis 2030 wird es 3,9 Millionen weniger Arbeitskräfte am deutschen Arbeitsmarkt geben.
Cawa Younosi, Personalchef und Mitglied der Geschäftsführung von SAP, Kerstin Wagner, Leiterin Personalgewinnung bei der Deutschen Bahn (DB), Katharina Herrmann, Vorstand Personal und Compliance, Hubert Burda Media, und Katrin Schwerdtner, Head of People & Culture bei Tomorrow, diskutieren deshalb mit Astrid Maier, Editor in Chief bei XING, über eines der großen Themen im Personalrecruiting.
Inhalt
- Wie ist der Fachkräftemangel nun zu verstehen?
- Welche Lösungen für den Fachkräftemangel erscheinen realistisch?
- 4-Tage-Woche, Home Office & Co
- Fazit
Wie ist der Fachkräftemangel nun zu verstehen?
Verstehen wir ihn denn nun wirklich richtig, den Fachkräftemangel? Nicht wirklich, sagen die Teilnehmer·innen des Panels. „Wir reden viel über den Mangel: Wir denken aber nicht darüber nach, welche Menschen brauchen wir tatsächlich, welche Themen gibt es in der Zukunft. Und was brauchen Menschen, damit wir sie überhaupt für Arbeit begeistern können“, sagt etwa Katharina Herrmann.

Auch Katrin Schwerdtner sieht einen entscheidenden Fehler: „Mein Eindruck ist, dass das Narrativ des Fachkräftemangels ein unausweichliches Desaster zeichnet, auf das wir zusteuern. Es gibt dafür eigentlich auch keine echte Lösung außer die ganz Großen.“ Tatsächlich gäbe es aber durchaus Lösungen für die Gesellschaft – und auch für Unternehmen.
In dieselbe Kerbe schlägt auch Cawa Younosi: „Wir wissen, je attraktiver man als Arbeitgeber ist, hat man auch unter den schwierigen Bedingungen heute die Chance, den Bedarf an Personal zu decken.“ Und genau die Arbeitgeberattraktivität ist hier der springende Punkt: Unternehmen müssen heute Anreize schaffen, um Menschen für Arbeit zu begeistern.
Welche Lösungen für den Fachkräftemangel scheinen realistisch?
Die Lösungen für den Fachkräftemangel, das zeigt die Diskussion, können durchaus vielfältig sein. Grundsätzlicher Tenor: Arbeit muss weiter flexibilisiert werden, Unternehmen müssen hinhören – und auf die Bedürfnisse Ihrer Belegschaft eingehen.
Das Recruiting muss sich anpassen
Das beginnt bereits beim Recruiting und den entsprechenden Prozessen, um neues Personal für ein Unternehmen zu gewinnen. „Bestimmte Prozesse gilt es hier, über Bord zu werfen“, sagt Kerstin Wagner. Bestes Beispiel: das Anschreiben im Bewerbungsprozess.
Grundsätzlich sollten Recruiting-Prozesse an die Bedürfnisse der Bewerbenden ausgelegt werden – wozu bei der Deutschen Bahn etwa ganz konkret der Wegfall des Anschreibens oder die Reduktion der notwendigen Unterlagen zählt. Nicht zu Unrecht wählt Kerstin Wagner deshalb den Begriff Kund·innen, wenn Sie von den Kandidat·innen spricht.
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Ein ähnliches Mindset verfolgt auch Tomorrow, wie Katrin Schwerdtner erklärt. Demnach beginne der Bewerbungsprozess beim Unternehmen in der Regel damit, dass sich das Unternehmen bei den Kandidat·innen vorstellt, um die Vision klar zu machen. Hier gelte es, die Frage zu beantworten, ob die Bewerbenden wirklich Lust haben, das Unternehmen auf dieser Reise zu begleiten.
Die Wichtigkeit von Retention Management
Cawa Younosi verweist mit Blick auf mögliche Lösungen für den Fachkräftemangel insbesondere auf die Notwendigkeit, noch stärker in die Bedingung der bestehenden Belegschaft zu investieren: „Retention is the new Recruiting“, betont der Personalchef von SAP. Hierfür müssen einerseits die Hygienefaktoren – wie etwa die Bezahlung – stimmen, andererseits gilt es, die individuellen Bedürfnisse der Mitarbeitenden zu befriedigen – oder, am besten: bereits zu antizipieren.
Natürlich müsse dafür Geld in die Hand genommen werden, nicht jede Maßnahme ist aber mit hohen Investments verbunden. Von oberster Bedeutung ist es demnach etwa, ein offenes Ohr für die Bedürfnisse der Belegschaft zu haben – und die Bereitschaft zu zeigen, auch entsprechende Maßnahmen umzusetzen.
Hier brauche es außerdem, das betont Katharina Herrmann, ein Umdenken. Recruiting und Retention dürften nicht mehr in zwei getrennten Töpfen betrachtet werden, vielmehr sind dies zwei Bereiche, die auf ein gemeinsames Ziel einzahlen. Moderne Zugänge zur Personalbeschaffung wie etwa Talent Acquisition versuchen, ein derartiges, integriertes Mindset umzusetzen.
Diversität auch wirklich nutzen
Schließlich gelte es mit Blick auf den Fachkräftemangel auch, im Recruiting auf bislang ungenutzte Potenziale am Arbeitsmarkt zu blicken. Die Generation der Über-50-Jährigen etwa werde, darüber sind sich die Teilnehmer·innen des Panels einig, flächendeckend in der Personalgewinnung noch zu oft vernachlässigt. Obwohl hier sehr viel Potenzial vorliege.
Die Deutsche Bahn, das betont Kerstin Wagner, habe das erkannt, setze im Recruiting auf die gezielte Ansprache von oftmals vernachlässigten Gruppen, wie etwa von Arbeitskräften aus dem Ausland. Und man habe sich – ausgehend von der Konzernstrategie – ambitionierte Ziele in Hinblick auf die Beschäftigung von Frauen, insbesondere in Führungspositionen, gesetzt.
Dafür setze man auf vielfältige Maßnahmen im Recruiting: Alle Stellen würden etwa auch in Teilzeit ausgeschrieben werden, auf sämtlichen Shortlists befänden sich auch Frauen. Zudem werden die hauseigenen Recruiting-Kampagnen stark am Weltfrauentag, bei der Deutschen Bahn ein Weltfrauenmonat, ausgerichtet.
Wichtig sei zudem, diesen Aspekt des Recruitings auch messbar zu machen. Die Deutsche Bahn messe deshalb ganz konkret, in welchen Stufen des Bewerbungsprozesses die Quote an Frauen überproportional abnehme – basierend darauf werden entsprechende Gegenmaßnahmen gesetzt. Überhaupt sei die Nutzung von Daten in sämtlichen Bereichen der Personalgewinnung von hoher Bedeutung.
Lösungen für den Fachkräftemangel: 4-Tage-Woche, Home-Office & Co?
Viele Maßnahmen, die auf die Flexibilisierung und Attraktivierung von Berufen abzielen, sind nicht flächendeckend umsetzbar. Bestes Beispiel: die 4-Tage-Woche oder das Home-Office. Diese funktionieren in vielen Bereichen bereits vorzüglich, sind in anderen aber schlichtweg nicht denkbar.
Hier besteht zwar einerseits das Risiko, dass es in dieser Hinsicht zu einer Spaltung des Arbeitsmarktes kommen könnte: Nämlich in jene Seite, auf der diese Modelle umsetzbar sind, und jene, auf der es eben nicht möglich ist.
So wollen unterschiedliche Berufgsruppen rekrutiert werden!
Zusammen mit forsa haben wir eine repräsentative Umfrage unter 1.736 Berufstätigen zu den Bedürfnissen unterschiedlicher Berufsgruppen im Recruiting durchgeführt. Im Whitepaper finden Sie die Ergebnisse.
Andererseits bergen diese Modelle zweifelsohne großes Potenzial, um weitere Anreize zu schaffen, um mehr Menschen in gewisse Berufe zu bringen – jene etwa, die besonders stark von den Auswirkungen des Fachkräftemangels betroffen sind.
Was die Personalchefs von SAP, Deutsche Bahn & Co zur 4-Tage-Woche zu sagen haben, können Sie in der Aufzeichnung des Panels nachsehen!
Fazit – Lösungen für den Fachkräftemangel
Fest steht, dass der Fachkräftemangel massive Auswirkungen auf Unternehmen und deren Recruiting hat und vor allen Dingen auch in Zukunft haben wird. Fest steht aber auch, dass Unternehmen dieses Schicksal nicht hinnehmen müssen, sondern mit gezielten Maßnahmen und hoher Arbeitgeberattraktivität auch weiterhin ihre offenen Stellen besetzen werden können.
Wie das konkret funktionieren kann, haben einige Beispiele des Panels auf der NWX23 gezeigt. Es braucht Flexibilisierung von Arbeit, es braucht konkrete Maßnahmen, um die Belegschaft langfristig zu binden, um Potenziale intern zu entwickeln. Und es braucht in vielen Fällen ein Umdenken – und zwar des gesamten Unternehmens.

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